Immer wieder erinnere ich mich an die Redewendung meines Vaters, der im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit als Handwerksmeister sagte: „Der kann das und der weiß wie das geht, der hat das von der Pike auf gelernt.“. Insbesondere hilfreich war diese Aussage als „Referenz“ bei sehr kritischen Kunden, die den Meister am liebsten rund um die Uhr am Ort des Geschehens sehen wollten. Im Rahmen der Auftragsabwicklung war dies jedoch meist nicht möglich und die Mehrkosten für einen „zusätzlichen“ Meister wären auch vom Kunden nicht aufgebracht worden. Somit war es für den Kunden von besonderer Bedeutung, dass der oder die Gesellen, einschlägig ausgebildet und erfahren, ihre Arbeit gewissenhaft verrichten konnten. Denn sie wissen ja, was sie tun. Darauf muss sich dann auch der Meister verlassen können.
Der Handwerksbereich hat die Bedeutung für das Thema „Ausbildung und einschlägige Berufserfahrung“ früh erkannt. Bereits im späten Mittelalter waren es vor allem die Bauhandwerker, die nach Abschluss ihrer Lehre zur Anwendung und Vervollständigung ihrer gewonnenen Fertigkeiten zur Wanderschaft verpflichtet waren. Grundlage hierfür waren die Statuten der einzelnen Zünfte. Der Ablauf der Wanderschaft, auch „Walz“ genannt, war im jeweiligen Regelwerk, dem Artikelbuch, festgelegt. Die vorgeschriebene Durchführung der Wanderschaft war somit seit dem Spätmittelalter bis zur beginnenden Industrialisierung auch eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Zulassung zur Meisterprüfung. Die Gesellen sollten vor allem unterschiedlichste Arbeitspraktiken und Aufgabenstellungen kennenlernen, die in anderen Orten, Regionen und Ländern zwangsläufig vorhanden sind. Das Sammeln von Arbeits- und Lebenserfahrung wird hierbei automatisch mit einer Weiterbildung kombiniert. Diese Art der weiterführenden Ausbildung und Qualifizierung führte dabei zwangsläufig zu einem „Wissenstransfer“ über Grenzen hinweg.
Nach Abschluss der Wanderschaft waren die Gesellen in ihrem Handwerk meist umfassend ausgebildet und konnten so Arbeiten ohne permanente „Überwachung“ und Anweisungen verrichten. Die weitere Spezialisierung vieler Gewerbe ging in die Gründung von Ingenieurschulen und auch Hochschulen über, die das Wandern als Qualifikation und Weiterbildung später weitestgehend abgelöst haben und seither versuchen Theorie und Praxis effektiv und zukunftsorientiert zu vermitteln.
Mit der Lehre und der Wanderschaft als „kombinierte Ausbildung“ war es dem Handwerk möglich, die Qualität der Arbeiten zu erhöhen, komplexere Leistungen umzusetzen und auch das Erarbeiten von Standards zu ermöglichen. Es war daher auch eine wesentliche Grundlage für die technologische Weiterentwicklung in Europa seit dem späten Mittelalter und hat die Industrialisierung begünstigt.
Der Ursprungsgedanke dieses Prinzips, nämlich eine (einschlägige) Vermittlung wesentlicher beruflicher Grundlagen in der Lehre und in der Wanderschaft eine fortgeschrittene Vermittlung von Theorie und Praxis, kann aus meiner Sicht als sehr fortschrittlich angesehen werden. Ich habe zwischenzeitlich den Eindruck gewonnen, dass das aktuelle Ausbildungssystem dieses Prinzip vermehrt aufgreift und in Ausbildungspläne bzw. -programme integriert, da die Herausforderungen der Zukunft wahrscheinlich mit der ursprünglichen Vorgehensweise weniger gut zu bewältigen sind. Spontan fällt mir hierzu das ausbildungsintegrative duale Studium ein, welches mit einem Hochschulabschluss und einer Berufsausbildung abschließt. Diese parallele Ausbildungsform existiert in Deutschland erst seit den 1970er Jahren, hat seinen Ursprung in Baden-Württemberg und wurde von dort schrittweise in andere Bundesländer „exportiert“.
Wie bereits im späten Mittelalter, als der Handwerksbereich mit seinen Statuten zu Lehre, Wanderschaft und Meisterprüfung ein Vorreiter war, hat dieser vor einigen Jahren eine weitere Innovation hervorgebracht: Die triale Ausbildung. Diese Ausbildungsform integriert nun (mindestens) drei Abschlüsse, den Gesellenbrief, die Meisterprüfung und den Hochschulabschluss. In Abhängigkeit des Berufs und der Hochschule, wird ggf. auch eine weitere Qualifikation integriert, z. B. der Polier. In einem überschaubaren Zeitraum von 5 Jahren werden hier Qualifikationen in einer sinnvollen Kombination aus Theorie und Praxis vermittelt, die nach Abschluss einen unmittelbaren Berufsstart ermöglichen sollten, insbesondere auch im Hinblick auf die weitergehenden Herausforderungen der Zukunft. Aus meiner Sicht war es Zeit (und auch lange überfällig), die eingefahrenen, i. W. stark sequentiellen, Ausbildungswege der Vergangenheit zu verlassen und denen, die es möchten, flexiblere Ausbildungsmöglichkeiten und -kombinationen zu ermöglichen. Gerade das Handwerk hat damit deutlich an (Ausbildungs-)Attraktivität gewonnen.